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18. Dez. 2004, SO Graubünden
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Spritzkanne

An den lieblichen Gestaden des Churer Sees

Für einmal blickt die «Spritzkanne» in die Zukunft. Wir schreiben das Jahr 2024, in dem der Churer See feierlich eingeweiht wird.

Alles ist bereit. Der See liegt da, zwar noch trocken, aber die Schleusen der Rheinzuleitung warten darauf, dass man sie während des nun beginnenden Festaktes öffnen wird. Die übliche Churer und Bündner Servelat-Prominenz ist versammelt.

Stadtpräsidentin Andrea Fopp hält eine Rede: «Meine lieben Damen und Herren, dieser Tag ist fast so besonders wie der 24. Oktober 2004, als ich zur jüngsten Gemeinderätin von Chur gewählt wurde, und wie der 18. September 2018, als man mich zur ersten Stadtpräsidentin machte. Heute nämlich weihen wir nach 20 Jahren Planung den Churer See ein. Herzlich begrüssen möchte ich auch Frau alt Bundesrätin Widmer-Schlumpf, welche damals mit den 435 Millionen aus dem Nationalbankgold die Stiftung 'Baden an Churer Ufern' gegründet hat. Und ganz speziell begrüssen möchte ich Herrn Xaver Hirschhorn, den Sohn des bekannten Thomas Hirschhorn, der uns als Direktor der Pro Helvetia im Jahre 2011 ein bedeutendes Darlehen für das Projekt 'Kunst am Strandhaus' gewährt hat. Und natürlich heisse ich als Vertreter des Grossen Rates, der seit Einführung des Proporzes im Jahre 2017 nur noch aus Sozialdemokraten besteht, Herrn Standespräsident Gustav Hämmerle herzlich willkommen.»

Während die Stadtpräsidentin noch die Gäste begrüsst, wird ein Rollstuhl mit dem bekannten Architekten Thomas Domenig sen. auf die Ehrenrampe gefahren. «Was sagt der da vorne?» brüllt Domenig, dem das Alter offensichtlich aufs Gehör geschlagen hat. Sein Enkel, Thomas Domenig jun., winkt ab: «Psst! Das ist die Stadtpräsidentin. Sie spricht zur See-Eröffnung.» - «Was, eine Frau?» brüllt Domenig senior weiter. «Die ist genauso schlecht, wie es der Rogenmoser war. Keine Ahnung vom Baugesetz, kein Sinn für Hochhäuser, kein blasser Dunst von der Ausnützungsziffer! Und die will meinen See eröffnen? Was meint denn diese aufgetakelte ...» Domenig junior stopft Domenig senior ein Taschentuch in den Mund und rollt den gestikulierenden Greis zusammen mit zwei Helfern ausser Hörweite.

Die Stadtpräsidentin ist nun bei den Entschuldigungen angelangt. «Nicht dabei sein können heute die ehemalige See-Verein-Präsidentin Anna Ratti, die sich nach ihrer Heirat mit alt Regierungsrat Claudio Lardi nach Casaccia zurückgezogen hat, ferner alt Regierungsrat Aluis Maissen, der sich bei der Einweihung der Unesco-Welterbe-Strecke auf dem Albula in einem Kehrtunnel verirrt hat. Entschuldigt haben sich heute leider auch alt Ständerat Christoffel Brändli und alt Nationalrätin Brigitta Gadient, beide konnten sich mit der Präsenz von Herrn Hirschhorn nicht einverstanden erklären. Brändli ist heute zudem mit der Eröffnung seiner Ausstellung '300 Jahre Bündner Olympia-Pläne' im Rhätischen Museum absorbiert. Und alt Stadtschreiber Dieter Heller wird erst zum Buffet erwartet.» (Da dieser aber nur noch flüssige Nahrung zu sich nehmen kann, fragt sich männiglich, wie das gehen soll.)

Dann schreitet die Stadtpräsidentin zum ersten Höhepunkt der Feierlichkeit, zur Enthüllung des Christophe-Keckeis-Denkmals. «Dem nur allzu früh verblichenen grossen Armeeführer verdanken wir diesen See», sagt die Stadtpräsidentin feierlich, «denn hätte sich der letzte Korpskommandant der Schweizer Armee nicht derart konsequent für eine Aufhebung des Churer Waffenplatzes stark gemacht, wäre der politische Wille zur Umnutzung des Rossboden-Areals nie vorhanden gewesen.» Grosser Applaus. «Bravo!» ruft Heinz Kindlimann, Chef des Zivilschutzverbandes Heidiland, der Nachfolgeorganisation der Armee XXI.

Nach einigen weiteren Belobigungen schreitet die Stadtpräsidentin zum Hauptakt, zur Öffnung des symbolischen Wasserhahnens, der mit einer Schleife in den Churer Farben geschmückt ist. Die Stadtmusik spielt einen Tusch, das Volk jubelt, und das Wasser fliesst. Danach begibt man sich frohgemut zum Buffet. Dort wartet man freilich artig, bis zwei Krankenpfleger eine ordentliche Portion in Kisten verpackt haben, die sie dann unverzüglich zu alt-alt Ständerat Cavelty ins Altersheim bringen.
Doch während sich die Gesellschaft bei Krabben und Champagner verlustiert, steigt der Wasserspiegel bedrohlich. Das Personal der Ingenieurfirmen, zwei Landschaftsarchitekten und Thomas Domenig jun. stehen besorgt in der Gegend herum und studieren Pläne, derweil das Wasser schon über den Uferbereich heraustritt. Als die ersten Gäste nasse Füsse bekommen, entsteht Panik. Die Feuerwehr trifft ein, doch der Zufluss lässt sich nicht mehr stoppen. Der Rhein ergiesst sich ungebremst ins künstliche Seebecken und nach ein paar Minuten steht schon die Ringstrasse unter Wasser. Thomas Domenig senior brüllt auf seinem Rollstuhl, er habe das schon immer gewusst, und der Zivilschutzchef ordnet vorsichtshalber erhöhte Bereitschaft an.

Doch alles nützt nichts mehr. Der Zauberlehrling hat die Besen gerufen, und so sind die Wassermassen nicht mehr zu stoppen. Der Bahnhof mit seinem bereits sanierungsbedürftigen Annexbau geht ebenso in den Fluten unter wie die Turnerwiese und das Schulhaus Quader. Die Bevölkerung wird auf den Mittenberg und nach Brambrüesch evakuiert. Als das Wasser schliesslich zum Stillstand kommt, unternehmen ein paar Beherzte auf einem Schlauchboot eine Fahrt durch die Obere Gasse, am Martinsturm vorbei, die Poststrasse hinunter, wo sie sich durchs Fenster im ersten Stock des «Calanda» ein Bier genehmigen und dann weiterpaddeln durch die Storchengasse und dann via Reichsgasse retour.
Doch Chur gibt sich, wie immer, einen Ruck und macht aus der Situation das Beste. Die Leute kehren vom Mittenberg und vom Känzeli zurück und kaufen sich ein Boot. Und Graubünden Ferien hat wie gewohnt die zündende Idee und polt den neuesten Fremdenverkehrs-Slogan sofort um. Statt: «Chur, verweile am See», heissts nun: «Chur, das Venedig der Alpen».

   
       
     
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