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Spritzkanne An den lieblichen Gestaden des Churer Sees Für
einmal blickt die «Spritzkanne» in die Zukunft. Wir schreiben das Jahr
2024, in dem der Churer See feierlich eingeweiht wird. Alles ist
bereit. Der See liegt da, zwar noch trocken, aber die Schleusen der
Rheinzuleitung warten darauf, dass man sie während des nun beginnenden
Festaktes öffnen wird. Die übliche Churer und Bündner
Servelat-Prominenz ist versammelt. Stadtpräsidentin Andrea Fopp hält
eine Rede: «Meine lieben Damen und Herren, dieser Tag ist fast so
besonders wie der 24. Oktober 2004, als ich zur jüngsten Gemeinderätin
von Chur gewählt wurde, und wie der 18. September 2018, als man mich
zur ersten Stadtpräsidentin machte. Heute nämlich weihen wir nach 20
Jahren Planung den Churer See ein. Herzlich begrüssen möchte ich auch
Frau alt Bundesrätin Widmer-Schlumpf, welche damals mit den 435
Millionen aus dem Nationalbankgold die Stiftung 'Baden an Churer Ufern'
gegründet hat. Und ganz speziell begrüssen möchte ich Herrn Xaver
Hirschhorn, den Sohn des bekannten Thomas Hirschhorn, der uns als
Direktor der Pro Helvetia im Jahre 2011 ein bedeutendes Darlehen für
das Projekt 'Kunst am Strandhaus' gewährt hat. Und natürlich heisse ich
als Vertreter des Grossen Rates, der seit Einführung des Proporzes im
Jahre 2017 nur noch aus Sozialdemokraten besteht, Herrn
Standespräsident Gustav Hämmerle herzlich willkommen.» Während die
Stadtpräsidentin noch die Gäste begrüsst, wird ein Rollstuhl mit dem
bekannten Architekten Thomas Domenig sen. auf die Ehrenrampe gefahren.
«Was sagt der da vorne?» brüllt Domenig, dem das Alter offensichtlich
aufs Gehör geschlagen hat. Sein Enkel, Thomas Domenig jun., winkt ab:
«Psst! Das ist die Stadtpräsidentin. Sie spricht zur See-Eröffnung.» -
«Was, eine Frau?» brüllt Domenig senior weiter. «Die ist genauso
schlecht, wie es der Rogenmoser war. Keine Ahnung vom Baugesetz, kein
Sinn für Hochhäuser, kein blasser Dunst von der Ausnützungsziffer! Und
die will meinen See eröffnen? Was meint denn diese aufgetakelte ...»
Domenig junior stopft Domenig senior ein Taschentuch in den Mund und
rollt den gestikulierenden Greis zusammen mit zwei Helfern ausser
Hörweite. Die Stadtpräsidentin ist nun bei den Entschuldigungen
angelangt. «Nicht dabei sein können heute die ehemalige
See-Verein-Präsidentin Anna Ratti, die sich nach ihrer Heirat mit alt
Regierungsrat Claudio Lardi nach Casaccia zurückgezogen hat, ferner alt
Regierungsrat Aluis Maissen, der sich bei der Einweihung der
Unesco-Welterbe-Strecke auf dem Albula in einem Kehrtunnel verirrt hat.
Entschuldigt haben sich heute leider auch alt Ständerat Christoffel
Brändli und alt Nationalrätin Brigitta Gadient, beide konnten sich mit
der Präsenz von Herrn Hirschhorn nicht einverstanden erklären. Brändli
ist heute zudem mit der Eröffnung seiner Ausstellung '300 Jahre Bündner
Olympia-Pläne' im Rhätischen Museum absorbiert. Und alt Stadtschreiber
Dieter Heller wird erst zum Buffet erwartet.» (Da dieser aber nur noch
flüssige Nahrung zu sich nehmen kann, fragt sich männiglich, wie das
gehen soll.) Dann schreitet die Stadtpräsidentin zum ersten
Höhepunkt der Feierlichkeit, zur Enthüllung des
Christophe-Keckeis-Denkmals. «Dem nur allzu früh verblichenen grossen
Armeeführer verdanken wir diesen See», sagt die Stadtpräsidentin
feierlich, «denn hätte sich der letzte Korpskommandant der Schweizer
Armee nicht derart konsequent für eine Aufhebung des Churer
Waffenplatzes stark gemacht, wäre der politische Wille zur Umnutzung
des Rossboden-Areals nie vorhanden gewesen.» Grosser Applaus. «Bravo!»
ruft Heinz Kindlimann, Chef des Zivilschutzverbandes Heidiland, der
Nachfolgeorganisation der Armee XXI. Nach einigen weiteren
Belobigungen schreitet die Stadtpräsidentin zum Hauptakt, zur Öffnung
des symbolischen Wasserhahnens, der mit einer Schleife in den Churer
Farben geschmückt ist. Die Stadtmusik spielt einen Tusch, das Volk
jubelt, und das Wasser fliesst. Danach begibt man sich frohgemut zum
Buffet. Dort wartet man freilich artig, bis zwei Krankenpfleger eine
ordentliche Portion in Kisten verpackt haben, die sie dann unverzüglich
zu alt-alt Ständerat Cavelty ins Altersheim bringen. Doch während
sich die Gesellschaft bei Krabben und Champagner verlustiert, steigt
der Wasserspiegel bedrohlich. Das Personal der Ingenieurfirmen, zwei
Landschaftsarchitekten und Thomas Domenig jun. stehen besorgt in der
Gegend herum und studieren Pläne, derweil das Wasser schon über den
Uferbereich heraustritt. Als die ersten Gäste nasse Füsse bekommen,
entsteht Panik. Die Feuerwehr trifft ein, doch der Zufluss lässt sich
nicht mehr stoppen. Der Rhein ergiesst sich ungebremst ins künstliche
Seebecken und nach ein paar Minuten steht schon die Ringstrasse unter
Wasser. Thomas Domenig senior brüllt auf seinem Rollstuhl, er habe das
schon immer gewusst, und der Zivilschutzchef ordnet vorsichtshalber
erhöhte Bereitschaft an. Doch alles nützt nichts mehr. Der
Zauberlehrling hat die Besen gerufen, und so sind die Wassermassen
nicht mehr zu stoppen. Der Bahnhof mit seinem bereits
sanierungsbedürftigen Annexbau geht ebenso in den Fluten unter wie die
Turnerwiese und das Schulhaus Quader. Die Bevölkerung wird auf den
Mittenberg und nach Brambrüesch evakuiert. Als das Wasser schliesslich
zum Stillstand kommt, unternehmen ein paar Beherzte auf einem
Schlauchboot eine Fahrt durch die Obere Gasse, am Martinsturm vorbei,
die Poststrasse hinunter, wo sie sich durchs Fenster im ersten Stock
des «Calanda» ein Bier genehmigen und dann weiterpaddeln durch die
Storchengasse und dann via Reichsgasse retour. Doch Chur gibt sich,
wie immer, einen Ruck und macht aus der Situation das Beste. Die Leute
kehren vom Mittenberg und vom Känzeli zurück und kaufen sich ein Boot.
Und Graubünden Ferien hat wie gewohnt die zündende Idee und polt den
neuesten Fremdenverkehrs-Slogan sofort um. Statt: «Chur, verweile am
See», heissts nun: «Chur, das Venedig der Alpen».
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